Ortsentwicklung
Die Gemeinde Neidlingen greift zum Schwert

Beim Grundstück Gießenstraße 3 hat das Neidlinger Ratsrund für das Vorkaufsrecht gestimmt. Auf dem knapp 16 Ar großen Platz soll neuer Wohnraum geschaffen werden.

Bei diesem Haus in der Gießenstraße 3 und dem Grundstück von knapp 16 Ar, auf dem es steht, macht die Gemeinde Neidlingen von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch. Foto: Peter Dietrich

Taucht auf der Tagesordnung des Neidlinger Gemeinderats der Posten „Vorkaufsrecht“ auf, ist das meistens eine Formsache: Die Gemeinde hat kein Interesse. Bei der Gießenstraße 3 war das jedoch anders, und die Sitzung in der Neidlinger Kelter hatte außergewöhnlich viele Zuhörer angezogen. Bei einer Gegenstimme beschloss der Gemeinderat, für 490.000 Euro in den Kaufvertrag einzusteigen und das Wohnhaus nebst Wirtschafts- und Nebengebäuden auf dem knapp 16 Ar – das sind 1600 Quadratmeter – großen Grundstück zu erwerben. Nicht, um mit diesem Grundstück einen Gewinn zu erzielen oder es dauerhaft zu behalten. Es soll an einen Investor weiterveräußert werden, der dort Wohnungen erstellt. Sie werden in Neidlingen dringend gebraucht, die Einwohnerzahl ist zuletzt auch wegen fehlender geeigneter Wohnungen um 139 auf nur noch 1703 gesunken.

Neuer Wohnraum durch Sanierung oder Nachverdichtung

Weil Neidlingen von vielen Schutzgebieten umgeben ist, ist das derzeitige Neubaugebiet Schießhütte das letzte. Hebt nicht irgendeine kommende Regierung irgendwann die Schutzgebiete wieder auf, bleibt es dabei. Neuer Wohnraum kann in Neidlingen also nur innerhalb der Bebauung entstehen, durch Sanierung oder Nachverdichtung. Dafür liefert das besagte Grundstück mit seiner großen Tiefe Potenzial. Der ursprünglich vorgesehene Käufer wollte dieses Potenzial allerdings nicht ausschöpfen, er hatte eine andere Nutzung im Sinn.

Um das zu verhindern, hat die Gemeinde in den ihr vorgelegten Kaufvertrag vom 22. April eingegriffen. „Das Vorkaufsrecht zu ziehen, ist ein starkes Schwert“, sagte Bürgermeister Jürgen Ebler im Gemeinderat. Dieser Schritt komme praktisch einer Enteignung gleich. „Doch wir müssen anfangen, jetzt neu zu ordnen.“ Der Begriff „Enteignung“ könnte allerdings in die Irre führen: Der Verkäufer erhält die vereinbarte Kaufsumme, aber statt vom ursprünglich vorgesehenen Käufer von der Gemeinde Neidlingen.

Barrierefreier Wohnraum

Das Grundstück liegt mitten im Sanierungsgebiet „Ortskern II“. Im Rahmen der vorbereitenden Untersuchungen zu diesem Sanierungsgebiet hat der Gemeinderat als Ziele unter anderem die Schaffung von – möglichst barrierefreiem – Wohnraum festgelegt, mit dem Abbruch von nicht mehr zu nutzenden Gebäuden und Nebengebäuden mit anschließender Neubebauung, mit Nachverdichtungen und dem Schließen von Baulücken. Dabei ist auch die Gießenstraße im Blick.

Das Wohnhaus in der Gießenstraße 3, das äußerlich betrachtet gut dasteht, soll nach dem Willen der Gemeinde modernisiert, die dahinter liegenden Wirtschafts- und Nebengebäude zugunsten einer Wohnbebauung abgerissen werden. Könnte die Gemeinde dafür nur einen Teil des Grundstücks erwerben? Nein, das sei nur komplett möglich, antwortete Bürgermeister Ebler auf die Nachfrage eines Gemeinderats.

Die Grunderwerbskosten und Nebenkosten kann die Gemeinde zur Städtebauförderung anmelden, es winkt ein Landeszuschuss von 60 Prozent der förderfähigen Kosten. Das will die Gemeinde tun, auch wenn sie das Grundstück weiterverkaufen will: So wird der Haushalt der Gemeinde temporär entlastet. Dafür darf der Kaufpreis höchstens zehn Prozent über dem vom Gutachter ermittelten Verkehrswert liegen. Eine erste Verkehrswertschätzung eines Sachverständigen bestätigt dies, die Gemeindeverwaltung wird aber noch ein offizielles Verkehrswertgutachten beauftragen.