Pionierin
Die junge Frau und das Meer

Mit acht Jahren lernt sie im Bissinger See das Schwimmen, zwölf Jahre später durchquert Gertrude Ederle als erste Frau den Ärmelkanal. Eine Ausstellung erinnert an ihre Lebensgeschichte. 

Gertrude Ederle wurde vor dem Lamm in Bissingen empfangen, nachdem sie 1926 als erste Frau durch den Ärmelkanal geschwommen ist. Archivfoto

Ein kleines Gewässer am Fuß der Schwäbischen Alb hat vor knapp 100 Jahren weltweit mediale Wellen geschlagen. Hier, im gerade einmal anderthalb Fußballfelder großen Bissinger See, hat Gertrude Ederle mit acht Jahren das Schwimmen gelernt. Zwölf Jahre später, am 6. August 1926, schreibt „Trudy“ Geschichte: Als erste Frau durchschwimmt die Amerikanerin mit schwäbischen Wurzeln den Ärmelkanal zwischen Frankreich und England.

An die Pionierin des Frauensports wird jetzt in der großen Sonderausstellung „Frei Schwimmen“ im Stuttgarter Haus der Geschichte erinnert. Die von der Museumsdirektorin Cornelia Hecht-Zeiler kuratierte Schau thematisiert Gleichberechtigung, Freiheit und Freizügigkeit, aber auch Ausgrenzung und Vorurteile, die das öffentliche Baden in der Vergangenheit geprägt haben. „Wir wollen zum Nachdenken anregen, denn frei Schwimmen ist keine Selbstverständlichkeit“, betonte Cornelia Hecht-Zeiler bei der Ausstellungseröffnung. Schwimmen sei eine demokratische Errungenschaft. Und auch eine Geschichte der Frauenemanzipation.

Gertrude Ederle war das Idol vieler selbstbewusster Frauen. Foto: Archiv

Gertrude Ederle hat viel dazu beigetragen. Bereits mit zwölf Jahren stellt sie den ersten Weltrekord über 800 Meter Freistil auf. Sie bricht in den folgenden Jahren elf weitere Weltrekorde und gewinnt bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris eine Goldmedaille in der 4 x-100-Meter-Freistilstaffel und zwei Bronzemedaillen über 100 und 400 Meter Freistil. Das alles geschieht in einer Zeit, in der Frauenschwimmen gesellschaftlich verpönt war. Wenn Frauen baden gehen, steigen sie züchtig angezogen ins Wasser.

Alle Männer nass gemacht

Und dann macht die 20-Jährige – die im französischen Cap Gris-Nez nur mit einem knappen Zweiteiler bekleidet, einer wasserdichten Brille ausgestattet und mit Wollfett zum Schutz gegen die Kälte eingerieben in die Wellen des Ärmelkanals steigt – mit ihrem Tempo auch noch alle Männer nass: Nach 14 Stunden und 31 Minuten erreicht Trudy das Ufer im englischen Dover. Womit sie trotz der starken Strömung den seitherigen Rekord, aufgestellt von dem Italiener Enrico Tiraboschi im Jahr 1923, um mehr als zwei Stunden unterbietet.

In New York, wo Gertrude Ederle 1905 zur Welt kam, wird die „Queen of the Waves“ nach ihrer Rückkehr aus Europa mit einer Konfettiparade auf dem Broadway empfangen. Zwei Millionen Menschen, so berichten zeitgenössische Quellen, jubeln ihr begeistert am Straßenrand zu. Wie kurz zuvor schon im beschaulichen Bissingen: Auch dort ist der Menschenauflauf vor dem Gasthaus zum Lamm groß, als der Schwimmstar unmittelbar nach dem großen Triumph die Großmutter in dem kleinen, schwäbischen Dorf besucht.

Von dort stammt ihr Vater. Heinrich (Henry) Ederle ist 1892 in die USA ausgewandert, um sein Glück in der Neuen Welt zu versuchen. Der damals 16-jährige Metzgergeselle arbeitet sich hoch, gründet eine Familie, kommt zu Wohlstand. Im Frühsommer 1914 sind die Ederles auf Stippvisite bei der Verwandtschaft in Bissingen. Die drei älteren Schwestern nehmen die kleine Trudy oft mit zum Baden im kleinen Feuersee, der von den Menschen im Flecken „Sai“ genannt wird.

Idol selbstbewusster Frauen

Doch das Mädchen kann nicht schwimmen und hockt traurig am Ufer – weshalb ihr der mitfühlende Vater irgendwann kurzerhand einen Strick um die Taille bindet und geduldig mit ihr übt. Die große Schwester Margarete, genannt Meg, erklärt ihr dabei, was sie besser machen muss. So schildert die Autorin Anne-Kathrin Kilg-Meyer in ihrem Buch über Gertrude Ederle jenen Tag, der das Leben von Trudy für immer verändert.

Das Wasser wird ihr Element – und sie Profisportlerin, die Sport- und Weltgeschichte schreibt. Ob gewollt oder nicht gewollt: Gertrude Ederle wird zum Idol einer Generation junger, selbstbewusster Frauen. Auch Jahrzehnte später noch fasziniert ihre unglaubliche Lebensgeschichte die Menschen – und Hollywood hat daraus jüngst sogar einen Film gemacht.

Gertrude Ederle durchschwamm den Ärmelkanal am 6.August 1926. Archivfoto

Persönlich hat Gertrude Ederle jedoch mit zwei Schicksalsschlägen zu kämpfen: Seit einer Masernerkrankung im Alter von fünf Jahren hat sie einen Hörschaden, die Kanaldurchquerung setzt ihrem Trommelfell zusätzlich zu. Zudem ist sie nach einem Treppensturz im Jahr 1933 auf den Rollstuhl angewiesen. Mit unermüdlichem Training gelingt es ihr jedoch, wieder laufen zu lernen – und zu schwimmen.

Bis ins hohe Alter, selbst fast taub, bringt Gertrude Ederle schwerhörigen und gehörlosen Kindern das Schwimmen bei. Noch mit 85 Jahren krault sie besonders gern im Atlantik. Sie stirbt 98-jährig am 30. November 2003 in einem Altenheim in New Jersey. Ihre Rekordzeit der Kanaldurchquerung ist übrigens erst 1950 von einer anderen Schwimmerin geknackt worden.