Es war drückend schwül am Sonntagnachmittag. Doch Trachtler sind hart im Nehmen. „Es isch bloß warm. Mir setzed oin Fuaß vor dr andre und müssed nur aufbasse das uns d‘Musik net durchanander brengt“, sagte einer, der für die Gruppierung Kuhländchen am Umzug des 72. Vinzenzifestes in Wendlingen mitmarschierte. Und da hatte er nicht ganz unrecht, denn direkt vor ihm marschierte die Böhmerwald-Spielschar aus Nürtingen und direkt hinter seiner Gruppierung gaben die Siebenbürger Musikanten aus Heidenheim alles.
Kuhländchen, das klingt irgendwie niedlich. Ein wenig märchenhaft. Doch die Region gibt es wirklich. Sie liegt im heutigen Tschechien, im Grenzbereich zwischen Mähren und dem früheren Österreichisch-Schlesien. Und damit zählt sie zu den sudetendeutschen Heimatlandschaften. Patenstadt ist Ludwigsburg. Der Verein heißt mit vollem Namen natürlich „Alte Heimat – Verein heimattreuer Kühländer“.
Es wäre schön, wenn wir auch heute das Neue als Bereicherung statt als Bedrohung sehen würden.
Steffen Waigel, Wendlinger Bürgermeister
Die Egerländer waren beim Umzug gut vertreten, neben der Wendlinger Gmoi waren auch die Gmoin aus Stuttgart und Ditzingen-Gerlingen gekommen, um das Vinzenzifest zu feiern. Doch auch Siebenbürger Sachsen aus dem Verein Kirchheim-Nürtingen und aus Metzingen-Reutlingen hatten sich ihr Gewand angezogen, um dieses Traditionsfest mitzufeiern. Banater Schwaben des Kreisverbandes Esslingen/Wendlingen zeigten ihre Tracht, die Altdorfer Trachtengilde war gar aus Weingarten angereist. Der Heimat- und Volkstrachtenverein „Filstaler“ war von Reichenbach herübergekommen. Das Wendlinger Publikum säumte die Umzugsroute und freute sich über den Anblick der schönen traditionellen Gewänder, die mit den derzeit so populären Volksfest-Dirndln aber auch gar nichts zu tun haben. Dass es am Sonntag nicht immer die helle Freude in dickem Lodenjanker zu marschieren, konnte erahnen, wer den Schweiß über der Stirn der Teilnehmer rinnen sah.
Da hatten es die Kinder der Wendlinger Schulen und Kindergärten leichter, sie reihten sich im T-Shirt in den Umzug ein. Bürgerbus, Feuerwehr, First Responder dürfen in diesem Umzug nicht fehlen, einen besonderen Applaus erhielt jedoch das historische Fahrzeug der Werksfeuerwehr der Firma Heinrich Otto & Söhne, das zum Fundus des Vereins der historischen Feuerwehrtechnik in Kirchheim gehört.
Kräftigen Beifall erhalten hatte am Vormittag aber auch Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Sie hatte dieses Jahr die Vinzenzirede im Treffpunkt Stadtmitte gehalten. „Ich finde es großartig, dass so viele verschiedene Stadtvereine mitmachen, dass sich immer neue Gruppen dem Festumzug anschließen, und dass viele tausend Menschen dabei sind, um diesen Mix zu leben und zu feiern: Das ist ein Lehrbeispiel für Toleranz, für Offenheit — und für unsere Heimat in Vielfalt. Unsere Heimat Baden-Württemberg“, sagte sie. Und erinnerte an das Schicksal der Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren hatten. „Wer Flucht und Vertreibung überlebt hatte, traf auf eine kriegszerstörte und kriegsversehrte deutsche Gesellschaft, der es fast an allem mangelte“, zeigte Aras auf, wie verheerend auch die Zeit direkt nach dem Krieg war.
Sie erinnerte an die Gründung Baden-Württembergs. Längst nicht alle waren damals für einen vereinten Südweststaat. „Der Zusammenschluss von Baden und Württemberg war hoch kontrovers“, sagte Aras. Schließlich entschied eine Volksabstimmung. Und Zünglein an der Waage waren die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen.
Nicht zuletzt berichtete Muhterem Aras von ihren eigenen Erfahrungen. Als Zwölfjährige kam sie nach Deutschland. „Meine Muttersprache war kurdisch und damals in der Türkei verboten; auch gehöre ich der alevitischen Religionsgemeinschaft an, die ebenfalls nicht frei praktizieren durfte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unendlich dankbar ich meinen Eltern bin, dass sie mir mit ihrem mutigen Schritt ein Leben in Freiheit ermöglicht haben“, sagte sie. Dankbar sei sie auch für all die Chancen, die sie in Deutschland erhalten habe. Ihr Ausruf: „Ich liebe dieses Land, ich liebe diese Verfassung, ich liebe die Demokratie: Sie ist das Beste, was wir haben“, erhielt lang anhaltenden Applaus.
Wendlingens Bürgermeister Steffen Weigel erinnerte in seiner Rede daran, dass die Heimatvertriebenen viel zum Aufbau des Landes Baden-Württemberg beigetragen hatten. „Man hat ihnen aber auch Raum gegeben, im Gemeinderat und im kulturellen Leben“, sagte Weigel. Neuankömmlingen diesen Raum zu geben, das gelinge jedoch immer weniger. Er wünschte sich, dass auch heute das Neue als Bereicherung statt als Bedrohung gesehen werden kann.