Gertraud Schäfer blickt auf ein langes und erfülltes Leben zurück. Morgen vollendet sie im Kreis ihrer Familie ein volles Jahrhundert an Lebensjahren. Geistig frisch und heiter empfängt sie ihren Gast und teilt gerne ihre Erinnerungen. Vergnügt beteiligt sich Gertraud Schäfer an der Unterhaltung, die von Tochter Silvia Hilbig (70) und Enkelin Andrea Hilbig (42) unterstützt wird. Da kommen die Fotoalben auf den Tisch, die sie von Wurzen mitgebracht hat. In Leder gebunden sind die schönen Alben. Die Fotos in Schwarz-Weiß und mit gezackten Kanten weisen auf eine lang vergangene Zeit hin.
Geboren wurde Gertraud Schäfer am 12. Juli 1924 in der Großen Kreisstadt Wurzen in Sachsen. Sie erinnert sich gut an die schöne Kindheit und an das liebevolle Elternhaus. Der Vater war Oberpostinspektor und die Mutter Hausfrau. Gut situiert von zu Hause aus, gab es keine Not. Auf Bildern ist sie froh und glücklich anzusehen. Als Baby und als hübsche junge Frau mit „Olympiarolle“, eine Frisur der damaligen Zeit. Die Bilder wurden vom Vater aufgenommen, der eine eigene Kamera besaß. An den Bruder erinnert sie sich gerne. Er hatte sich einst den Arm verletzt bei einem Unfall. Der Arm versteifte. Was zunächst ein Unglück war, erwies sich später als Glück. Er wurde im Zweiten Weltkrieges nicht als Soldat eingezogen. An die dunklen Zeiten Deutschlands erinnert sie sich nur ungern. Sie macht es „wie die Sonnenuhr“ und zählt bevorzugt die „guten Stunden“ nur.
Ausbildung zur Kinderpflegerin
Der Vater förderte die Schulbildung seiner Tochter. Statt wie damals üblich durfte Gertraud nicht nur acht Schuljahre, sondern zehn Jahre zur Schule gehen. Gertraud besuchte dazu eine „höhere Mädchenschule“ und machte nach dem Schulabschluss eine Ausbildung zur Kinderpflegerin.
„Die Männer waren häufig im Krieg geblieben, die Frauen arbeiteten, und die Kinder mussten betreut werden“, erinnert sie sich noch heute. Aus diesem Grund machte sie obendrein die Ausbildung zur staatlich geprüften Kindergärtnerin. „Der Beruf hat mir immer sehr viel Freude gemacht. Ich habe ihn bis zur Rente durchgehend ausgeübt“, erzählt sie nicht ohne Stolz. Tochter Silvia hat sie später einfach mit in den Kindergarten genommen, so lange, bis diese eingeschult wurde.
Es gab für Gertraud Schäfer ein unbeschwertes Leben vor dem Krieg. „In Wurzen war immer was los“, erinnert sie sich noch gut. Sie spazierte gerne durch die Große Kreisstadt im Nordosten des Landkreises Leipzig. Als junge Frau tat sie dies gerne mit Freundin Margarete, die vor wenigen Jahren verstorben ist. Gemeinsam haben die beiden bei so einem Spaziergang durch Wurzen zwei junge Burschen kennengelernt. Freundin Margarete hat „ihre Eroberung“ später geheiratet. Bei Gertraud entstand eine Brieffreundschaft mit dem jungen Mann aus Bremen. Seine Briefe hat sie heute noch.
Bald darauf lernte sie ihren späteren Gatten kennen. 1952 wurde geheiratet. Ein Hochzeitsbild zeigt ein glückliches junges Paar. 1955 kam Tochter Silvia zur Welt und blieb das einzige Kind der Schäfers. Sie erinnert sich daran, dass Papa als Schneidermeister ihr immer die schönsten Garderoben genäht hat. „Und als die Röcke später immer kürzer wurden, hat er mir auch diese Wünsche erfüllt, obwohl Mama das nicht so gern sah“, erzählt sie lachend. Der mittlerweile verstorbene Vater ist allen in liebevoller Erinnerung.
Gertrauds Tochter Silvia wechselte mit der Wende 1989 vom Osten in den Westen. Sie fasste Fuß in Weilheim – 500 Kilometer entfernt von der Mutter.
Umzug nach Weilheim
Gertraud blieb lieber in der Heimat – in Wurzen. Mittlerweile verwitwet, lebte sie allein, bis 2015 ein gesundheitlicher Einbruch Entscheidungen verlangte. Ein Pflegeheim kam für alle nicht infrage. Der Umzug nach Weilheim war somit beschlossen und wurde innerhalb kürzester Zeit organisiert. Gertraud Schäfer hat sich mittlerweile sehr gut eingelebt in Weilheim. Die ersten Jahre wurden noch viele Ausflüge gemacht. Die Mobilität war da noch besser, erzählen Tochter und Enkelin. Die beiden begegnen jedem Problem mit Pragmatismus. Als das Treppensteigen in den zweiten Stock hinauf zu beschwerlich wird, wird ein Treppenlift im Hausflur installiert. Der Pflegedienst kommt mittlerweile einmal täglich vormittags. Essen auf Rädern erleichtert den Alltag an vier Werktagen. Am Wochenende wird selbst gekocht von Tochter Silvia. „Kartoffeln, Quark und Leberwurst mag ich gerne“, lässt Gertraud Schäfer wissen.
Ihr Lebensweg führt von der Zeit des Pferdefuhrwerks bis in die heutige Hightech-Zeit. Die vielen technischen Geräte der heutigen Zeit sind Gertraud – verständlicherweise – suspekt. Gemeinsam mit den Ur-Enkeln hat sie unlängst dennoch erstmals ein Handy-Spiel gespielt. Mit dem Blick nach vorn gerichtet, stellt sie sich vertrauensvoll den Widrigkeiten des Alters und des Alltags und ist einfach nur dankbar für ihre „Mädchen-WG“.
Gefeiert wird der 100. Geburtstag morgen in einer Gaststätte im Kreis der Familie.