Predigt
In Kirchheim wurde gleich nach Kriegsende Klartext gesprochen

Am 29. April 1945 hielt Christian Berg in der Martinskirche eine außergewöhnliche Rede. Christian Buchholz hat die Hintergründe recherchiert.

Im Jahr 1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, kehrte Christian Berg in die Kirchheimer Martinskirche zurück, um dort erneut zu predigen. Foto: Carsten Riedl

Seine Predigt vor 80 Jahren hat Kirchheims damaliger Stadtpfarrer Christian Berg mit der Maschine getippt und zu seinen Personalakten im Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart gegeben. Sie wurde bisher nicht veröffentlicht. Christian Buchholz, Schuldekan im Ruhestand, hatte sich mit dem früheren Kirchheimer Dekan Hartmut Ellinger dafür eingesetzt, es kam aber nicht dazu. Buchholz vergleicht Bergs Predigt mit jenen zur selben Zeit von Landesbischof Theophil Wurm in der Stuttgarter Staatsoper und von Professor Karl Fezer, dem damaligen Ephorus des Evangelischen Stifts, in der Stiftskirche von Tübingen: Letztere seien von Trost und Seelsorge geprägt gewesen, aber ohne jede Bereitschaft zur Buße und zum Zweifel.

Das war bei Berg anders: Er verwies – neun Tage nach dem Kriegsende in Kirchheim und neun Tage vor der vollständigen Kapitulation – auch auf die schlimmen Begleiterscheinungen der Besetzung Deutschlands, auf Plünderungen und Vergewaltigungen. Aber das sei nicht mit der deutschen Schuld zu vergleichen. Biblische Grundlage von Bergs Predigt sind die Worte des Schächers, der neben Jesus am Kreuz hängt, aus Lukas 23,41: „Wir empfangen, was unsere Taten wert sind.“

Klage über Konzentrationslager

„Unsere Kinder werden an diesem Fluch tragen“, sah Berg voraus. Er geißelte „Vermessenheit und Stolz“ sowie „törichte Blindheit“. Das Volk habe sich durch Gewissenlosigkeit und entfesselte Machtgier betrügen lassen. Berg beklagt die Konzentrationslager in Dachau und Buchenwald, das Schicksal von Martin Niemöller, den ungerechten Strafvollzug, die Judenverfolgung und Judenvernichtung, die Ermordung von behinderten Menschen in Grafeneck und die unverantwortlichen letzten Gefechte deutscher Soldaten. Ein neuer Weg beginne mit Buße des Einzelnen, des Volkes und der Christenheit, betonte er.

Pfarrer Christian Berg mit seinen Kindern. Foto: pr

Berg könnte von den Schrecken der Konzentrationslager durch die internationale Presse erfahren haben, sagt Buchholz, eventuell aber auch erst durch die von den Amerikanern auf dem Kirchheimer Marktplatz aufgestellten Fototafeln über die Greueltaten. Oder habe er über die Verbindungen der Bekennenden Kirche Bescheid gewusst? „Jedenfalls gehörte eine Portion Mut dazu, dies offen zu benennen, denn noch war der Krieg nicht ganz vorbei.“

Berg als beherzter Vermittler

Noch am 13. April 1945 hatte Gauleiter Wilhelm Murr den „Kampf bis aufs Messer dem Feinde unseres Volkes“ gefordert und behauptet: „Mutig und unverzagt wird die Nation diesen Krieg zu ihrem Vorteil beenden.“ Es gab gefährliche Auseinandersetzungen zwischen dem schlecht ausgestatteten „Volkssturm“ und amerikanischen Panzern. Nur beherzte Vermittler wie Pfarrer Berg oder der Fabrikant Martin Schempp hätten Schlimmeres verhütet, sagt Buchholz. Am 20. April waren die Straßen von Dettingen und Owen durch fliehende deutsche Soldaten verstopft, sie sollten auf der Albhochfläche eine letzte Abwehrstellung aufbauen. Die Amerikaner griffen den langen Tross mit Artillerie und Flugzeugen an.

Lob, Respekt, Betroffenheit

Bergs Predigt am Sonntag Kantate wurde vielfach zitiert und kommentiert. Der Tenor seien Lob, Respekt und Betroffenheit, sagt Buchholz. In wenigen Fällen habe es auch Kritik gegeben, weil „man doch schon früher so hätte argumentieren können und müssen“.

Schuldekan i.R. Christian Buchholz sitzt im Chorgestühl der Martinskirche in Kirchheim. Foto: pr

Die frühere Lebensgeschichte von Christian Berg, der von 1908 bis 1990 lebte, wirkt wie ein langes Vorwort zu seiner Predigt vom 29. April 1945.

Im Jahr 1933 wurde er in Boitzenburg in der Uckermark evangelischer Pfarrer. Wegen „Herab­würdigung des NS-Staates“ stand er schon 1934 in Schwerin vor Gericht. 1937 wurde er Pfarrer in ­Haifa/Palästina. 1939 wurde der NS-kritische Pfarrer von der württembergischen Landeskirche übernommen und kam nach Kirchheim. Er schloss sich der „Kirchlich-Theologischen Sozietät“ an, einer konsequenten Gruppierung in der „Bekennenden Kirche“. Im Herbst 1945 hatte er eine Auseinandersetzung mit seinem Dekan Martin Leube. Dieser warf Berg vor, er habe „in allen dienstlichen Angelegenheiten versagt“, obwohl dieser unter anderem viele Kriegsvertretungen übernommen hatte. Ab 1946 arbeitete Berg im Zentralbüro des Evangelischen Hilfswerks in Deutschland, 1957 wurde er dessen stellvertretender Generalsekretär und Mitbegründer von „Brot für die Welt“.

Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1972 leitete Berg schließlich die „Gossner Mission“ in Berlin. 1961 erhielt er die Ehrendoktorwürde.

Rückkehr nach 40 Jahren

1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, kehrte er in die Kirchheimer Martinskirche zurück, um dort erneut zu predigen. Er verwies auf die Stuttgarter Schulderklärung von 1945 als theologisch-politisches Vorbild und bekannte: „Aus Schuld und Gericht führt die Straße in die Gnade und Freiheit Gottes.“

Kurz vor seiner Predigt von 1945, berichtet Buchholz, habe ein frommer Mann aus der Hahn’schen Gemeinschaft mit Berg die Predigt besprochen und ihn gebeten: „Sie müssen trösten.“ Noch wichtiger sei, habe Berg entgegnet, dass die Menschen zur Buße kommen. Für Buchholz ist der unerschrockene Prediger eine Mahnung, „eine Erinnerungskultur mit unaufgeregtem Mut und wacher Sensibilität zu bewahren, sich einzumischen und Position zu beziehen für die Würde des Menschen“.