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Treppen können der Anfang vom Ende sein

Alter Die Gerontologin Ulla Reyle beleuchtet die Zeit nach dem Berufsleben und zeigt dabei neue Aspekte auf. Von Thomas Krytzner

Vielen fällt beim Stichwort Rente sofort der Schlager und Ohrwurm „Mit 66 Jahren“ von Udo Jürgens ein. Seit 1977 behauptete er in seinem Lied, dass da das Leben erst anfängt und noch lange nicht Schluss sei. Der 2014 verstorbene Musiker sollte mit seiner gesungenen Aussage Recht behalten: Heute dauert die Lebensphase nach dem Berufsleben gut 30 Jahre und länger. Diese Erkenntnis teilt Gerontologin Ulla Reyle in ihrem Vortrag „Segel neu setzen“. Und sie weiß, wovon sie spricht. Mit bald 74 Jahren steht sie in der Blüte des Rentenalters. „Welche Stellschrauben kann man drehen, damit die dritte Lebensphase bunt und lebendig wird?“, fragte Ulla Reyle zum Beginn ihres Vortrags und stellte damit auch gleich das Ziel ihres Referates fest.

Die Lebensphase „Alter“ dauere in der heutigen Zeit also immer länger und man sei gut beraten, sich darauf gut vorzubereiten. Doch auch das hohe Alter sollte nicht außer Acht gelassen werden. Ulla Reyle vergleicht das Altwerden mit einer Reise auf einem neuen, unbekannten Kontinent: „Auf dem Kontinent Alter gibt es nur wenig gebahnte Wege. Vieles muss selbst gesucht werden, es entsteht eine historisch neue Situation.“ Mit dieser spricht sie den demografischen Wandel an. „Es sind noch nie so viele Menschen so alt geworden wie heute.“ Dies bedeute ein langes Leben für die Menschheit und es gebe keine Vorbilder. „Aus diesem Grund verzichte ich beim Vortrag auf sämtliche technische Hilfsmittel. Denn: jeder hat sein eigenes Bild vom Ruhestand“, erklärt die 73-Jährige.

Das Klischee des Ruhestands hat längst ausgedient, das Muster gibt es nicht mehr. „Wir altern sehr unterschiedlich. Das hängt auch mit dem vorangegangenen Beruf zusammen.“ Die bekannten Altersbilder, zum Teil noch in schwarzweiß fotografiert, passen mit der heutigen Zeit nicht mehr zusammen. „Auf diesen alten Bildern sieht man häufig erschöpfte alte Menschen. Heute sind die Seniorinnen und Senioren viel fitter.“ Sie ist überzeugt, dass heute der Eintritt in die Rente eine Veränderung unter vielen geworden ist und stellt die These auf: „Je älter, desto weiblicher, desto alleinstehender.“ Ulla Reyle erklärt dies mit der Lebenserwartung der Frauen, die etwa zehn Jahre höher liegt als bei Männern.

Was aber alle älter werdenden Menschen gemeinsam haben, ist, dass man das Alter vor allem am Körper spürt. „Das beginnt mit der Altersweitsichtigkeit“, weiß die Gerontologin und beim Blick in die Runde der Vortragsteilnehmer schmunzelt sie. „Die meisten tragen eine Brille und ich erkenne deren Alter am Gestell.“ Viel schlimmer sei es mit dem Verlust des Gehörs, folgert Ulla Reyle aus ihren Erfahrungen. „Wer schlechter hört und sich im stillen Raum einrichtet, schafft Voraussetzungen für die Altersdemenz.“ Sie empfiehlt daher, die Sinneswahrnehmungen offen zu halten. „Das ist Selbstfürsorge, und ein Hörgerät ist heute längst kein Makel mehr.“ Ebenso wenig sollen sich Menschen im Alter nicht grämen, wenn der Körper an Gewicht zulege. „Frauen zwischen 50 und 60 Jahren legen allein schon wegen dem Stoffwechsel an Gewicht zu und die Taille verschwindet langsam“, beobachtet Ulla Reyle. Sie versüßt das unweigerliche Hüftgold: „Mit leichtem Übergewicht hat man die höchste Lebenserwartung.“ Den staunenden Skeptikern erklärte sie: „Im Körperfett speichert sich Östrogen, dass das Herz vor einem Infarkt schützt.“

Hohe Scheidungsrate

Der Ruhestand gehöre zur zentralen Herausforderung. Vor allem in der Phase des Renteneintritts sterben die meisten Männer, deren Lebensinhalt das Berufsleben war, behauptet Ulla Reyle. „Paare haben es beim Eintritt in den dritten Lebensabschnitt schwer. Die meisten Ehen werden während dieser Übergangsphase geschieden“, beruft sich die Gerontologin auf ihre Erfahrungen. Das Ende der Ehe werde meist von Frauen eingeläutet. Scherzhaft erklärt sie: „Frauen wollen, dass es dem Mann in der Rente gut gehe – aber nicht auf Kosten der eigenen Freiheit.“ Als Beispiel fügte sie das Klischee des Rentners an, der in seiner dazugewonnenen Freizeit erklären will, wie die Spülmaschine einzuräumen sei.

Ulla Reyle rät deshalb: „Lassen sie sich Raum. Man muss nicht während der 24 Stunden am Tag alles zusammen machen.“ Eine Umfrage unter 42 über 100-Jährigen, was ihr Leben im hohen Alter noch sinnvoll und glücklich macht, brachte laut Ulla Reyle neue Erkenntnisse. Zum einen sei es die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und zum anderen die Verbundenheit mit den Lebenden und den Toten.

 

Tipps zur Vorbereitung auf den dritten Lebensabschnitt

Ulla Reyle rät: „Wir sollten vordenken, auch wenn man im guten jungen Leben das Alter oft als Bedrohung verdrängt.“ Sie denkt dabei vor allem an die eigenen vier Wände und die vertraute Umgebung. „Das ist ein geschützter Raum, der so hergerichtet werden sollte, dass er bis ins hohe Alter selbstständig nutzbar ist.“

Treppen, die von älteren Menschen oft als „Fitmacher“ gesehen werden, können auch der Anfang vom Ende der Teilhabe sein. Die Gerontologin empfiehlt angehenden Rentnerinnen und Rentnern deshalb, sich frühzeitig mit Seniorenräten in Verbindung zu setzen. „Diese beraten bei der altersgerechten Wohnungsgestaltung gerne und kommen auch vor Ort, um die jeweilige Situation einzuschätzen.“
Kinder seien im Alter ein wesentlicher Aspekt. „Man sollte mit den eigenen Kindern frühzeitig besprechen, was passiert, wenn man zum Pflegefall wird.“ Ulla Reyle, die als Supervisorin oft derartige Gespräche geführt hat, kennt die Folgen. „Wenn es zu spät ist, liegt die ganze Verantwortung bei den Nachkommen, und diese sind damit oft überfordert.“

Beziehungen innerhalb der Familie gehen oft zu Bruch, wenn Angehörige alte Menschen im Pflegefall waschen müssen. Sie rät deshalb zur Entpflichtung der Kinder von der Körperpflege. Sie empfiehlt deshalb: „Lieber die schönen Dinge gemeinsam mit der Familie erleben. Das fördert die Teilhabe und macht die Reise durch den Kontinent Alter lebenswert.“ kry