Die aktuelle Lage beeindruckt die zierliche Frau nicht sonderlich. „Die Welt spinnt nicht, sie war schon immer so“, sagt Ruth Michel, geborene Rosenstock. Zum dritten Mal ist die mittlerweile 96-Jährige von ihrem Wohnort Leinfelden ins Bildungszentrum Wühle nach Weilheim gekommen. „Ich bin gerne hier“, sagt Michel, die 1941 in Mikuliczyn, der heutigen Ukraine, als Kind eines jüdischen Vaters nur knapp dem Tod entronnen war.
Damals war sie 13 und damit jünger als die meisten der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse der Weilheimer Werkreal- und Realschule, die an diesem Tag in der Schulmensa sitzen. Die Geschichte der jungen Ruth fesselt die Jugendlichen, auch wenn die Vortragende ihr Erlebtes nicht unbedingt zielgruppengerecht, sondern von dicht beschriebenen Seiten ohne mediale Unterstützung vorliest. Das Erzählte hat auch auf diese Weise genug Kraft.
Geboren im ostpreußischen Königsberg als Tochter eines jüdischen Vaters und einer evangelischen Mutter, flüchtete Ruth mit ihrer Familie 1935 vor dem beginnenden Nazi-Terror nach Mikuliczyn, wo ihre jüdische Großmutter in einer jüdischen Community mit eigener Synagoge lebte. Der Luftkurort südlich von Lemberg (Lwiw) lag damals in Polen und gehört heute zur Ukraine. Die Kinder in der Schule machten sich über die fehlenden Sprachkenntnisse des deutschen Mädchens lustig. „Ich habe damals gelernt, zu kämpfen“, erinnert sie sich. Sie hat sich vorgenommen, Klassenbeste zu werden, damit die Hänseleien aufhörten. „Nach zwei Jahren hatte ich es geschafft.“
Die zierliche Frau will den Weilheimer Jugendlichen von Judenhass und Fremdenfeindlichkeit erzählen – Themen, die heute wieder erschreckend aktuell sind und auf die sie zu Beginn mit einem Verweis auf den Terrorakt der Hamas am 7. Oktober 2023 auf die israelische Bevölkerung eingeht. Vor anderthalb Jahren wurden in Israel mehr als 1000 Menschen ermordet. Er gilt als der brutalste und folgenreichste Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust. „Wenn ich gefragt wurde, ob ich so etwas wieder für möglich halte, habe ich immer Ja gesagt“, sagt Ruth Michel mit fester Stimme.
Ich bin eine Kämpferin und werde es bleiben. So viel Zeit habe ich ja nicht mehr.
Ruth Michel über ihr Wesen, dank dessen sie überlebt hat und sie bis heute antreibt.
Ihr persönliches Martyrium erlebte sie am 9. Dezember 1941. „An diesem Tag hatte jedes Hoffen ein Ende“, sagt sie. Damals nehmen die Nazis die jüdischen Arbeiter im örtlichen Sägewerk fest. „Lkws fuhren durch die Stadt, voller Menschen“, erzählt sie. Ruth hatte es auf der Straße gehört und wollte ihren Vater warnen, doch sie kam zu spät zum Sägewerk. Dann ist sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in den Wald geflüchtet, bei minus 20 Grad.
Zunächst kamen alle ins Gemeindegefängnis, zusammen mit allen anderen Juden, die sie finden konnten. Es war so voll, dass nur die Alten einen Sitzplatz fanden. „Drei Tage lang dauerte das Martyrium, dann war das Massengrab ausgehoben.“ Am 12. Dezember werden die Gefangenen in den Wald gefahren, mussten dann zwei Kilometer durch den Wald laufen, barfuß durch den Schnee. An einer acht mal acht Meter großen Grube müssen sich die Juden nackt ausziehen und sich an deren Rand knien. „Sie wurden von den Deutschen bestialisch durch Genickschuss ermordet“, sagt Ruth Michel. Die Häuser der Juden wurden geplündert, ihre Kleidung auf einen großen Haufen geworfen. 205 Menschen sind ermordet worden – es ist ein kleines Wunder, dass sie als Halbjüdin dem Massaker entkommen konnte.
Der Vortrag hat die Weilheimer Jugendlichen, die ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, beschäftigt und löst eine angeregte Fragerunde aus. „Warum sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt?“, will ein Schüler wissen, warum sie in das Land derer gekommen ist, die ihren Vater getötet haben. Die Antwort klingt so einfach wie profan: „Meine Mutter konnte nur Deutsch.“ Dennoch sieht sie ihre Heimat, in der sie bis heute lebt, kritisch, auch wegen der aktuellen politischen Tendenzen. „Es ist sicher traurig, aber ich bin nicht überrascht. Ich habe nie geglaubt, dass Deutschland nicht mehr rechts sein wird. Ich hoffe, dass so ein Verbrechen dieser Art nicht mehr stattfindet. Aber sicher bin ich nicht.“
Sie sei eine Kämpferin, sagt Ruth Michel. Dennoch habe sie lange gebraucht, über das Erlebte zu sprechen. „Bis 2010 wusste niemand etwas über meine Vergangenheit“, erzählt sie. Damals erschien ihr Buch „Die Flucht nach vorne“. Warum es so lange gedauert habe, fragt eine Schülerin. Es sei nach dem Tod ihres Mannes gewesen, der schon vor 30 Jahren verstorben war. Damals kam der Wunsch auf, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, die Ähnliches erlebt hat.
Wie sie es geschafft hat, nach dem Massaker aus dem Ort zu fliehen, wollen nach dem Vortrag noch zwei Schülerinnen wissen. Es seien glückliche Zufälle gewesen, sagt sie. Eigentlich hatten sie keine gültigen Papiere, aber ein Mann im Zug hat Mitleid mit ihnen gehabt. Dann nahm er Ruth, ihre Mutter und ihre Schwester bei sich auf für einige Monate in einem Städtchen in Polen. „Wenn Sie Mut haben, haben Sie auch Glück“, gibt sie den beiden mit auf den Weg.
